Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind zwei neurologische Entwicklungsstörungen, die in der Forschung und von den Betroffenen zunehmend gemeinsam als neurologisch atypische Anlage verstanden werden. Beide „Störungsbilder“ weisen neben Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auch unterschiedliche Merkmale im Bereich der Informationsverarbeitung auf. Sie beeinflussen in sehr spezifischer Weise die Art und Weise, wie der Betroffene Informationen wahrnimmt und verarbeitet. Die Herausforderungen, die sich daraus für den Betroffenen ergeben, sind vielfältig, insbesondere wenn beide Diagnosen gemeinsam auftreten.
Informationsverarbeitung bei Autismus
Bei Autismus-Spektrum-Störungen steht häufig die detailorientierte und systematische Verarbeitung von Informationen im Vordergrund. Menschen mit Autismus nehmen die Welt oft sehr intensiv wahr. Sinnesreize werden ungewöhnlich stark oder schwach wahrgenommen und gelangen ungefiltert in das Bewusstsein der Betroffenen. Im Gegensatz zur neurotypischen Wahrnehmung führt diese Reizfilterschwäche dazu, dass Hintergrundgeräusche, Lichter oder Texturen nicht automatisch herausgefiltert werden, sondern gleichwertig mit allen anderen Informationen in die Wahrnehmung und Verarbeitung der Betroffenen einfließen.
Während die Wahrnehmung und Verarbeitung eines neurotypischen Menschen z.B. in einem Café das Gespräch mit einem Freund priorisieren kann, kann eine Person mit Autismus das Klirren der Tassen oder das Summen der Kaffeemaschine ebenso intensiv wahrnehmen. Oder z.B. in einem Kaufhaus werden alle akustischen und visuellen Informationen sowie alle Gerüche, Werbebotschaften und sonstigen Reize der Umgebung gleichzeitig und gleich intensiv wahrgenommen. Dies erschwert dem Menschen mit Autismus die Übersicht und Orientierung. Die Folge kann ein Overload, eine Überlastung der sensorischen Verarbeitungsmöglichkeiten sein.
Kognitiv zeichnen sich Menschen mit Autismus durch eine Vorliebe für Struktur, Logik und wiederkehrende Muster aus. Ihre Wahrnehmung wird oft als „lokal kohärent“ beschrieben. Sie konzentrieren sich eher auf Details als auf das große Ganze. Dies kann zu außergewöhnlichen Fähigkeiten führen, z.B. beim Erkennen von Mustern oder beim Lösen komplexer Probleme, birgt aber auch die Gefahr, den Kontext zu übersehen. Eine weitere Herausforderung ist die soziale Informationsverarbeitung. Nonverbale Signale wie Mimik oder Tonfall werden nicht intuitiv entschlüsselt, sondern müssen bewusst analysiert werden, was soziale Interaktionen anstrengend machen kann.
Informationsverarbeitung bei ADHS
Im Gegensatz dazu ist die Informationsverarbeitung bei ADHS durch eine hohe Flexibilität, aber auch durch eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne gekennzeichnet. Menschen mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit gezielt zu lenken und irrelevante Reize auszublenden. Ihr Gehirn springt zwischen verschiedenen Reizen hin und her, was zu einer fragmentierten Wahrnehmung führen kann. In einem Café kann eine Person mit ADHS beispielsweise von einem Gespräch abgelenkt werden, weil sie plötzlich die Dekoration, ein vorbeifahrendes Auto oder einen Gedankenfetzen verfolgt.
Die kognitive Verarbeitung bei ADHS ist weniger systematisch als bei Autismus. Stattdessen dominiert ein spontanes, oft kreatives, impulsgesteuertes Denken. Dies kann zu innovativen Ideen führen, aber auch dazu, dass Aufgaben unerledigt bleiben, da exekutive Funktionen wie Planung, Organisation und Impulskontrolle beeinträchtigt sind. Obwohl soziale Informationen bei ADHS intuitiver verarbeitet werden als bei Autismus, kann die Impulsivität dazu führen, dass Reaktionen unüberlegt erscheinen oder Gespräche unterbrochen werden.
Unterschiede und Überschneidungen
Trotz ihrer Unterschiede gibt es Überschneidungen zwischen Autismus und ADHS, die die Diagnose und das Verständnis erschweren können. Beide Störungen können mit sensorischen Verarbeitungsproblemen einhergehen: Autismus wird oft mit Über- oder Unterempfindlichkeit in Verbindung gebracht, ADHS häufig mit Überreizung durch zu viele gleichzeitige Eindrücke. Aus Sicht der Betroffenen ist dies jedoch nicht wirklich zutreffend, da sowohl Menschen mit Autismus als auch mit ADHS über beide Auffälligkeiten gleichermaßen berichten. Auch die Aufmerksamkeitsregulation kann sowohl bei Autismus als auch bei ADHS erschwert sein, bei Autismus durch eine übermäßige Fixierung auf Details, bei ADHS durch eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne.
Eine weitere Gemeinsamkeit sind Schwierigkeiten mit den exekutiven Funktionen. Bei Autismus äußert sich dies in einer starken Vorliebe für Routine und Schwierigkeiten mit unerwarteten Veränderungen, während bei ADHS die Herausforderung darin besteht, Aufgaben zu beginnen und abzuschließen. Auch soziale Interaktionen sind betroffen: Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, soziale Signale zu verstehen, während Menschen mit ADHS durch Impulsivität oder Unaufmerksamkeit soziale Missverständnisse provozieren können.
Der größte Unterschied liegt in der Art der Informationsverarbeitung: Autismus ist durch Tiefe und Präzision gekennzeichnet, ADHS durch Breite und Spontaneität. Während eine Person mit Autismus sich stundenlang mit einem Thema beschäftigen kann, springt eine Person mit ADHS zwischen verschiedenen Interessen hin und her, ohne sich festzulegen.
Wenn Autismus und ADHS gemeinsam auftreten
In den letzten Jahren wurde zunehmend erkannt, dass Autismus und ADHS häufig gemeinsam auftreten – Schätzungen zufolge bei bis zu 50-70% der Menschen mit einer der beiden Diagnosen. Diese Kombination stellt eine besondere Herausforderung dar, da die Merkmale einander widersprechen können. So kann eine Person, die sowohl die autistische Neigung zu tiefer Konzentration als auch die ADHS-bedingte Unruhe aufweist, sich intensiv mit einem Thema beschäftigen wollen, aber ständig durch innere Unruhe oder äußere Reize abgelenkt werden.
Die Informationsverarbeitung bei dieser Doppeldiagnose ist ein komplexes Zusammenspiel. Die sensorische Überempfindlichkeit des Autismus kann durch die Störung der Reizfilterung bei ADHS verstärkt werden, was zu einer extremen Reizüberflutung führt. Natürlich kann die autistische Detailorientierung auch positiv mit der ADHS-Kreativität kombiniert werden, was zu einzigartigen Problemlösungsansätzen führt – vorausgesetzt, die Person erhält die richtige Unterstützung, um ihre Stärken zu nutzen.
Herausforderungen und Unterstützung im Alltag
Im Alltag können sowohl Autismus als auch ADHS zu Stress führen, insbesondere wenn die Umgebung nicht an die neurologischen Bedürfnisse angepasst ist. Für Menschen mit Autismus sind klare Strukturen und minimierte Reize entscheidend, während Menschen mit ADHS von flexiblen Ansätzen und kurzen, abwechslungsreichen Aufgaben profitieren. Bei einer Kombination beider Zustände ist ein individueller Ansatz nötig: Eine ruhige Umgebung könnte Überreizung vermeiden (Autismus), während Bewegungspausen die Unruhe kanalisieren könnten (ADHS).
Gesellschaftlich ist Aufklärung essenziell. Autismus wird oft als „zu wenig Flexibilität“ missverstanden, ADHS als „zu wenig Disziplin“. Beides sind neurologische Unterschiede, keine Charakterschwächen. Lehrkräfte, Arbeitgeber und Familienmitglieder können durch gezielte Maßnahmen – wie visuelle Zeitpläne, klare Anweisungen oder Pausenräume – unterstützen. Besonders bei kombinierten Diagnosen ist eine interdisziplinäre Betreuung durch Psychologen, Therapeuten und Neurologen hilfreich, um die individuellen Bedürfnisse zu erkennen.
Stärken und Potentiale von Autismus und ADHS
Sowohl Autismus als auch ADHS bringen einzigartige Stärken mit sich.Die autistische Fähigkeit, sich tief in ein Thema zu vertiefen, kann in Bereichen wie Forschung oder Technik von unschätzbarem Wert sein.Die für ADHS typische Spontaneität und Kreativität glänzt in der Kunst, im Unternehmertum oder in Brainstorming-intensiven Berufen. In Kombination können diese Stärken synergetisch wirken: Eine Person kann innovative Ideen (ADHS) mit präziser Umsetzung (Autismus) verbinden.
Autismus und ADHS stehen für zwei unterschiedliche, sich jedoch häufig überschneidende Arten der Informationsverarbeitung.Während Autismus durch Struktur, Detailorientierung und Tiefe gekennzeichnet ist, steht ADHS für Flexibilität, Impulsivität und Breite.Ihre Gemeinsamkeiten, wie Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit oder der Sinnesregulation, erfordern Verständnis und Unterstützung.Dies kann Menschen mit diesen Diagnosen helfen, ihre Herausforderungen zu meistern und ihre Potenziale der autistischen Präzision und der ADHS-Kreativität erfolgreich zu leben.