Jedes fünfte Elternteil vermutet beim eigenen Kind ADHS – oder es liegt bereits eine ADHS-Diagnose vor

Wie relevant ist ADHS aus Sicht von Eltern? Wie groß ist ihr Informations- und Unterstützungsbedarf? Und wie verbreitet sind Vorurteile gegenüber ADHS-Betroffenen? Diesen und weiteren Fragen ist das SINUS-Institut erstmals im Rahmen einer repräsentativen Eltern-Befragung im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft zur Förderung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Teilleistungs-/ Wahrnehmungsstörungen e.V. (BAG-TL/WS) nachgegangen.

Ein überraschendes Ergebnis einer Studie des Sinus-Institutes ist, dass jedes fünfte Elternteil beim eigenen Kind ADHS vermutet oder bereits eine ADHS-Diagnose vorliegt. Desweiteren ist ADHS ein wichtiges und relevantes Thema unter Eltern: 20% der befragten Eltern mit Kindern unter 18 Jahren haben für ihr Kind eine ärztliche ADHS-Diagnose (9%) oder zumindest eine ADHS-Vermutung (11%). Allerdings stufen sich nur 10% bei diesem Thema selbst als „sehr informiert“ ein, weitere 51% halten sich für „eher informiert“. Zudem findet jeder Zweite (50%), dass es nicht genügend Informationen zum Thema ADHS gibt. Der Informationsstand zu ADHS ist somit aus Elternsicht ausbaufähig, so die Einordnung von Eckhard Barth, Vorsitzender der BAG-TL/WS e. V.

Eltern sehen Nutzen und Risiko von ADHS-Medikamenten

Die medikamentöse Therapie von Kindern mit ADHS wird von Eltern differenziert wahrgenommen. Die Mehrheit der Eltern ist der Meinung, dass ADHS-Medikamente Betroffene bei der Alltagsbewältigung helfen könnten (75%) und notwendiger Bestandteil einer Therapie sind (68%). Andererseits ist auch die Meinung weit verbreitet, dass Medikamente betroffene Kinder lediglich ruhig stellen, sie aber nicht heilen (77%). Die Fragen nach negativen Effekten von Medikamenten spaltet die Elternschaft: 56% sind der Meinung, dass ADHS-Medikamente stumpf machen, und 49% finden, dass durch ADHS-Medikamente Lebensgefühl verloren geht. Eine Abhängigkeit von ADHS-Medikamenten befürchten 41% der Eltern.

Vorurteile gegenüber ADHS existieren auch unter Eltern

Vorurteile gegenüber ADHS bzw. davon Betroffenen sind zwar nicht die Regel unter Eltern, aber es  gibt sie, vor allem unter Eltern ohne Kinder mit ADHS. Obwohl eine knappe Mehrheit der Eltern (54%) beklagt, dass ADHS nicht als Krankheit akzeptiert wird, halten die Befragten ADHS weder für eine Erfindung der Pharmaindustrie (13% Zustimmung), noch für eine Modekrankheit (24%) oder einen Medienhype (29%). Allerdings halten immerhin 41% der Eltern ADHS für eine „unspezifische Einheitsdiagnose für alles Mögliche“. Eine Minderheit von 22% der Befragten sind der Meinung, dass ADHS vor allem in sozial schlecht gestellten Schichten auftritt, weitere 12% vermuten, dass eine ADHS-Diagnose auf die schlechte Erziehung der Eltern zurückzuführen ist, und 9% der Eltern glauben, dass ADHS vor allem bei Kindern mit niedriger Intelligenz auftritt.

Eltern sehen soziales Ausgrenzung bei ADHS kritisch

Betroffene müssen auch weiterhin mit sozialer Exklusion rechnen. 80% der Eltern finden, dass ADHS-Erkrankte ausgegrenzt werden (z.B. Mobbing in der Schule), weitere 74% erkennen, dass es Kinder mit ADHS schwerer haben, Freunde zu finden. Immerhin 15% der Eltern ist es lieber, wenn ihre Kinder nicht mit Kindern spielen, die ADHS haben. Eltern äußern aber auch Mitgefühl gegenüber Betroffenen. Nahezu alle Befragten finden, dass Kinder mit ADHS ihr Potential nicht ausschöpfen können (90% Zustimmung), und dass Kinder mit ADHS mehr Unterstützung benötigen als Kinder ohne ADHS (89%).

Eltern fehlen Informationen über die Ursachen von ADHS

Die von den befragten Eltern mit Abstand am häufigsten vermutete ADHS-Ursachen sind physiologischer Natur wie genetische Ursachen / Vererbung (40%), neurologische Erkrankungen / Störung des Nervensystems (37%) oder chemisches Ungleichgewicht im Hirn (25%). Soziale, psychologische oder Ernährungsfaktoren als Auslöser für ADHS werden seltener genannt. Ein Viertel führt ADHS zu viel Medienkonsum (24%) zurück. Soziale Aspekte wie mangelnde Aufmerksamkeit der Eltern und problematische Familienverhältnisse (Alkoholismus, häusliche Gewalt, etc.) halten jeweils 21% der Eltern für Ursachen von ADHS.

Ebenfalls etwa jedes fünfte Elternteil bringt ADHS ursächlich mit Leistungsdruck (21%), Drogen-/Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft (20%), überfordernden Lebensereignissen (19%) oder mit bei der Erziehung überforderten Eltern (19%) in Verbindung. Alle anderen erhobenen Erklärungsansätze werden deutlich seltener genannt, z.B. schlechte Erziehung (7%), alleinerziehende Eltern (6%), niedriges Einkommen / Kinderarmut (4%), ADHS-Erkrankung in Folge einer Impfung in der Kindheit (3%).

Über die Studie und die Auftraggeber

Der Auftraggeber der Studie, die BAG-TL/WS e.V. wurde 1991 von betroffenen Eltern gegründet, um entwicklungsauffällige Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS, Teilleistungs-/Wahrnehmungsstörungen zu unterstützen. Die BAG-TL/WS e.V. pflegt eine Datenbank (www.adhs-info-zentrum.de – seit 03-2023 offline), vermittelt Kontaktadressen und bietet Orientierungshilfen.

Die SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH (www.sinus-institut.de) bietet seit 40 Jahren psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung an. Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage des SINUS-Instituts, an der 1.000 Personen zwischen 22.07. und 12.08.2021 teilnahmen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für deutschsprachige Eltern ab 30 Jahren, die mindestens 1 Kind unter 18 Jahren haben. Dies entspricht ca. 14,2 Millionen Menschen in Deutschland.